Beim Nachdenken über das Thema Schweigen kam mir zuallererst eine Erinnerung an meinen
früheren Lateinunterricht in den Sinn: “Si tacuisses, philosophus mansisses.” - “Wenn Du
geschwiegen hättest, wärst Du Philosoph geblieben.” Wahrscheinlich haben Generationen von
Lateinschülern diesen Satz gehört, der dem römischen Gelehrten, Philosophen und Politiker Boethius
zugeschrieben wird. Die Bedeutung bzw. Interpretation liegt auf der Hand - wir müssen nicht immer
und zu allem etwas sagen, vor allem dann nicht, wenn wir uns über eine Sache, eine Situation, eine
Person gar kein Urteil erlauben können, also im Sinne von “Reden ist Silber, Schweigen ist Gold”.
Ich möchte versuchen, den Satz in eine etwas andere Richtung zu verstehen. Nicht alles, was wirklich
wichtig und wesentlich ist, braucht Worte. Nicht alles, was wirklich wichtig und wesentlich ist,
erkennen wir, wenn wir reden - erst im Schweigen offenbart es sich uns, im Schweigen und Hören.
Oder noch etwas anders gesagt: im Nachhören, im Nachklingen lassen. Stellen wir uns einen
Gottesdienst vor ohne Pausen zwischen Gebeten, Gesängen, Lesungen, Predigt - undenkbar, denn
die Momente des Schweigens, des Nachhörens sind für uns wichtig, um das, ganz subjektiv,
wichtigste des eben gehörten oder gesungenen nachwirken zu lassen und in unserer Erinnerung zu
verankern. Oder das Stundengebet ohne die Zäsuren zwischen den Versen - ohne diese minimalen
Pausen wäre das Ganze zum einen sehr unmusikalisch, zum anderen sind auch diese kurzen
Momente wichtig als Augenblicke des Innehaltens und Nachhörens.
Oben formulierte ich den Satz, nicht alles, was wirklich wichtig und wesentlich ist, brauche Worte -
wenn ich eben das Stundengebet, den Gesang und damit die Musik anspreche, gehe ich noch einen
Schritt weiter. Nicht alles, was wirklich wichtig und wesentlich ist, braucht Worte oder Töne, klingende
Substanz sozusagen. Der Musikjournalist Volker Hagedorn hat ein sehr inspirierendes Essay über
das Verstummen der Töne geschrieben, unter dem ebenso schlichten wie umfassenden Titel “Das
große Schweigen.” Er erwähnt darin gleich am Anfang eine Aufführung der fünften Symphonie Anton
Bruckners. Bruckner, dessen 200. Geburtstag in diesem Jahr seine Symphonien und geistlichen
Chorwerke gerade wieder etwas mehr ins Licht rückt, war nicht nur ein zutiefst frommer und
spiritueller Mann, sondern er hat wie wenige andere Komponisten Pausen, Momente absoluter Stille,
zu einem essentiellen Moment seiner Musik gemacht, Was Hagedorn beschreibt ist, dass der Dirigent
eine von Bruckner vorgegebene, sehr lange Pause im ersten Satz der Sinfonie um die Hälfte kürzte -
vielleicht aus Angst vor zu viel Schweigen mitten in der Musik?
Vermutlich haben wir alle schon Situationen erlebt, in denen wir ungewöhnlich langes Schweigen und
Stille als merkwürdig, irritierend oder verstörend empfunden haben. Doch wie muss es erst in einer
Situation sein, in der Schweigen und Stille überhaupt nicht absehbar und erwartbar sind, zum Beispiel
in einem Konzert? Manchmal hilft vielleicht nur Schweigen, um sich über eine vermeintlich vertraute,
liebgewonnene, selbstverständlich gewordene Sache neue, weiterführende Gedanken zu machen. So
sah es zumindest der US-amerikanische Komponist John Cage. 1952 schuf er eines seiner wohl
berühmtesten Stücke, dessen Titel lediglich seine Länge angibt: 4’33”. Es besteht aus drei Sätzen,
jeder Satz hat eine präzise angegebene Länge, zusammen eben vier Minuten und 33 Sekunden.
Über allen Sätzen steht “tacet” - “er, sie, es schweigt”. Aber wer schweigt? Die Musiker, das Stück,
das Publikum? Alle gleichermaßen. Die Uraufführung durch den Pianisten David Tudor im Rahmen
eines Programmes mit zeitgenössischer Klaviermusik im August 1952 in New York geriet zum
Skandal. Der Pianist betrat das Podium, setzte sich als Klavier, und vier Minuten und 33 Sekunden
passierte nichts. Der Skandal erklärte sich freilich daraus, dass das Publikum nichts von allem
wusste. Doch ist das wirklich ein skandalöser Einfall? Eröffnet das Stück nicht vielmehr die
Möglichkeit, aus der Stille heraus ganz persönliche Klänge vor dem inneren Ohr zu hören, sich dazu
von der eigenen Phantasie anregen zu lassen, dem eigenen Inneren Nachzuhören?
Benedikt erwähnt in seiner Regel an verschiedenen Stellen das Schweigen. Das sechste Kapitel etwa
ist der Schweigsamkeit gewidmet, die im Abschnitt “Die geistliche Kunst” somit zwischen den Kapiteln
zum Gehorsam und zur Demut steht. Das Kapitel ist nicht lang, am Ende heißt es darin: “Denn Reden
und Lehren kommen dem Meister zu, Schweigen und Hören dem Jünger.” Nehmen wir diesen Satz
doch beim Wort und fragen uns - was möchte der “Meister” John Cage uns, die hörenden “Jünger”,
mit diesem stummen Stück lehren, über Musik, aber auch über das Schweigen und das Hören? Die
Antwort kann jeder nur für sich selbst finden. Möge Euch das kurze Video ein wenig dabei helfen.
Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von YouTube. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.
Mehr InformationenImpuls von Christian
Tacet, oh wie bereichernd! Ich danke Dir für den Impuls, ich hatte noch nie von der Komposition gehört. Ich gehe in Resonanz mit dem Gedanken über das Schweigen. Mir erscheint es als Antagonist zum „Reden“. So etwa wie Licht und Schatten. Wenn wir das eine nicht wahrnehmen, erfahren wir nicht die Schönheit und Wichtigkeit des anderen. Alles hat seine Qualität, auch wenn ich diese manchmal nicht verstehe, insbesondere, wenn es aus der Balance gerät und meine Haltung nur eine Perspektive bevorzugt. So eröffnet das Schweigen neue Wahrnehmungsräume oder ist eine Intervention!
Danke für Deinen Kommentar! Und dass Schweigen der Antagonist zum Reden ist, gefällt mir sehr, so ist es mir noch gar nicht in den Sinn gekommen 🙂
Sehr schöne und inspirierende Gedanken. Spannend, bereits zu Beginn des dritten Abschnitts musste ich an die Komposition von Cage denken und hatte vor, diese als Kommentar anzuhängen – und dann war sie Gegenstand des Impulses. 4'33'' ist sehr beeindruckend – einmal habe ich das Stück live erlebt.
Schweigen würde unserer Zeit an vielen Stellen sehr gut tun, wo es doch heute vermehrt zu beobachten ist, dass die eigene Meinung für das non plus ultra gehalten und so auch kommuniziert wird. Aktives Hören kann auch nur durch Schweigen geschehen. Möchte ich, dass mein Reden etwas zu sagen hat, brauche ich das schweigende Hören.
Danke für Deine Rückmeldung. Besonders gefällt mir der letzte Satz, wobei ich aus dem schweigenden Hören das schweigenden Zuhören machen würde…. Oft mehr Wunsch als Realität 🙂
Das stimmt, nach dem Abschicken habe ich noch gedacht: das hörende Schweigen.
Lieber Christian,
vielen Dank für Deine inspirierenden Gedanken!
Durch das Video habe ich tatsächlich etwas gelernt:
Ich hatte es gestartet und erst mittendrin bemerkt, dass die Lautsprecher ausgeschaltet waren. Mein erster Impuls: ist ja egal, ist eh nichts zu hören…
Habe es dann aber doch noch ein zweites Mal mit Ton angehört:
Die kleinen Störgeräusche und das "Loslassen" zwischen den Sätzen ließen mich die Stille noch konzentrierter und intensiver erleben.
Und der Schlussapplaus ist geradezu befreiend.
Mein Fazit: Ohne Schweigen kein Hören, ohne Hören kein Klang – aber auch: ohne Klang kein Hören, ohne Hören kein Schweigen, das lohnt.
Und Störgeräusche beleben, erlauben mir vielleicht sogar ein heiteres Schweigen.
Danke!
Und allen einen schönen Sonntag und eine gute Woche!
Philipp
Ohhh, ich hatte den Lautsprecher auch ausgeschaltet!! 😎
Auch Dir danke ich für Deinen Kommentar. Das heitere Schweigen wird sich mir einprägen 🙂 und vielleicht funktionieren Schweigen und Stille tatsächlich nur mit ein paar Störgeräuschen?
Stille, ganz gewöhnliche Stille kommt ja im Alltag meist zu kurz. Keine Aufgabe, keine Beschäftigung, kein akustischer oder anderweitiger Input. Erst dann merke ich, wie groß mein Bedürfnis danach eigentlich gerade ist, nach einer wirklich großen Pause, in der sich die Dinge in mir in aller Ruhe ordnen und klären können.
Danke für den tollen Impuls.
Zu der (wohl) rhetorischen Frage eines Gottesdienstes ohne Pause: Im Rahmen einer Bußandacht vor einigen Jahren hat der Liturge während seiner Homilie – die im wesentlichen aus Fragen bzw. Aufforderungen zur Reflexion aufgebaut war – bewusst zwischen den einzelnen Phasen lange Pausen gemacht und sich sogar zwischendurch hingesetzt. Mir persönlich gefiel dieser Ansatz sehr gut. Die anderen Besucher hingegen äußerten anschließend wenigstens starke Irritation bis hin zur strikten Ablehnung.